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GEISTESGESCHICHTE

Die Kirche fordert ihre Mitglieder grundsätzlich dazu auf, sich Wissen sowohl über die Grundsätze des Evangeliums anzueignen als auch auf jedem anderen, geistig erhebenden Wissensgebiet, das einem ein Leben des christlichen Dienens ermöglicht. Die Heiligen der Letzten Tage legen Wert auf intellektuelle Betätigung, da dies das Leben und den persönlichen Glauben zu bereichern vermag, zur Verschönerung der Erde und zur Verminderung des Leides in der Welt beitragen kann und dem Wachstum des Gottesreiches auf Erden förderlich ist. In der Theologie der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage wird der göttliche Auftrag, Gott zu erkennen, ihn zu lieben und ihm von ganzem Herzen und mit aller Macht und Kraft zu dienen (Dtn. 6:5; 1. Chr. 28:9; Mt. 22:37; LuB 4:2; vgl. Joh. 17:3) sehr ernst genommen. In gewissem Sinne ist das Sichaneignen von Bildung also ein Akt der Gottesverehrung.

Ein Teil unseres gottgewollten Lebenszwecks besteht darin, geistige und intellektuelle Erkenntnis zu erlangen. Der Prophet Joseph SMITH hat gelehrt, daß “Wahrheit offenbar wird durch das Prüfen von Gegensätzen” (History of the Church 6:248). Etwas mit dem Verstand durchzuarbeiten, ist oft die Vorbedingung dafür, daß einem Hilfe von Gott zuteil wird (LuB 9:8), und eine Botschaft von Gott erkennt man häufig daran, welche Auswirkungen sie auf den Verstand hat. Schon früh wurde den Heiligen der Letzten Tage geboten, in den besten Büchern nach Wissen zu trachten (siehe LuB 88:118) und Schulen zu gründen (siehe SCHULE DER PROPHETEN), in denen geistiges und weltliches Wissen vermittel wurde.

DER IDEENFLUSS. In der Theologie der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage sind Offenbarungen von Gott an seine berufenen Propheten die wahre Quelle jeder Kirchenlehre und “der Erkenntnis der Dinge Gottes” (TPJS, S.217 ). Folglich gibt es in der Kirche kein feststehendes System, nach dem theologische Fragen in wissenschaftlich einhelliger Weise beantwortet werden. Es besteht jedoch kein Zweifel an der Notwendigkeit, nach Wahrheit zu suchen. Joseph Smith hat gelehrt, daß “niemand schneller erlöst wird als er Erkenntnis erlangt” (TPJS, S.217 ) “und wenn jemand in diesem Leben durch seinen Eifer und Gehorsam mehr Wissen und Intelligenz erlangt, als ein anderer, so wird er in der künftigen Welt um so viel im Vorteil sein. (LuB 130:19.)

Die frühesten schriftlichen Aufarbeitungen der Theologie der Kirche stammen von Kirchenführern zum Zweck der Missionsarbeit. Orson PRATT <Pratt, Orson> ist der Verfasser zweier wichtiger Bücherserien, nämlich The Kingdom of God (4 Bde., 1848/49) und Divine Authenticity of the Book of Mormon (6 Bde., 1850/51). Er ist auch der Verfasser wissenschaftlicher Untersuchungen im Zusammenhang mit theologischen Spekulationen. Parley P. PRATT <Pratt. Parley P.>, Orson Spencer und Lorenzo SNOW <Snow, Lorenzo> sind die Verfasser wichtiger Bekehrungstraktate. Parley Pratts zusammenfassendes Werk Key to the Science of Theology gibt das freie, unverbildete theologische Gedankengut der ersten Jahre nach der Gründung der Kirche wieder.

Nach 1857 ging der Druck der vielen Missionarstraktate aus verschiedenen Gründen zurück. Erstens mußte das wenige vorhandene Geld dazu verwendet werden, die Heiligen der Letzten Tage in ihr Zion zu führen und dort Tempel zu bauen. Dennoch wurden im Journal of Discourses die Ansprachen von Kirchenführern (besonders die von Brigham YOUNG <Young, Brigham>) abgedruckt, deren Themen von Landwirtschaft bis hin zu Politik und Theologie reichten. HLT-Geschichte, Kirchenlehre und Philosophie wurden bei verschiedenen Anlässen wie z.B.Gebetskreisen, in Kirchenzeitschriften und Diskussionsrunden vorgetragen.

Mit der Urbanisierung der Kirche im 20. Jahrhundert kamen zu den üblichen Kirchenzeitschriften und Firesides, die vom Tempelplatz in Salt Lake City gesendet wurden, sowie zu den Büchern der kircheneigenen und halboffiziellen Druckereien zusätzlich noch die von der Kirche nicht organisierten Aktivitäten und veröffentlichten Druckerzeugnisse hinzu. Diskussionsrunden und Vorträge im Pionierstil wichen zwanglosen Veranstaltungen wie Firesides, Studiengruppen oder Hausversammlungen. Neue Zeitschriften mit unterschiedlichen redaktionellen Absichten - von denen die meisten von der Kirche nicht gebilligt werden - behandeln Probleme und Fragen, die der Kirche zu kontroversiell oder zu theoretisch sind. In neuerer Zeit werden immer mehr wissenschaftliche Aufarbeitungen HLT-spezifischer Themen von Universitätsverlagen innerhalb und außerhalb Utahs gedruckt, die sowohl von Mormonen als auch Nichtmormonen stammen.

GEISTIGE VORBEDINGUNGEN DER WIEDERHERSTELLUNG. Die Heiligen der Letzten Tage glauben daran, daß Gott das intellektuelle, politische und religiöse Klima vor der Wiederherstellung des Evangeliums durch kulturelle und religiöse Strömungen wie die Renaissance, die Reformation und insbesondere den Puritanismus und die Aufklärung in England aufbereitet hat.

Die Kritik des Puritanismus an der englischen Kirche betraf in erster Linie den mangelnden sittlichen Lebenswandel des Klerus, die mangelnde Bildung der Kirchenmitglieder und die Frage nach der Beziehung des Menschen zu Gott. Die ersten beiden Generationen der amerikanischen Puritaner lebten gemäß den Idealen einer Bündnisgemeinschaft, erfüllt vom Geist göttlicher Sendung. Anfang des 18. Jahrhunderts wurde der Puritanismus durch das Aufeinandertreffen auf die Ideale der Aufklärung trotz gelegentlicher religiöser Neubelebungsversuche völlig vernichtet. Wo der Puritanismus die Herrlichkeit Gottes und die Sündhaftigkeit des gefallenen Menschen in einer sündigen Welt betonte, wies die Aufklärung auf das Gute im Menschen und die Schönheit der Welt hin, und verband eine Naturtheologie mit den sich langsam entwickelnden wissenschaftlichen Theorien.

Der Widerspruch zwischen diesen beiden Denkmodellen führte zu einer Entzweiung der amerikanischen Gesellschaft. Die puritanischen Geistlichen, die bis dahin in Amerika das Sagen gehabt hatten, wurden durch patrizische Aristokraten und Laien-Wissenschaftler ersetzt. Der Puritanismus wurde in verwässerter Form fortgesetzt; nach 1740 und der Großen Erweckungsbewegung fanden missionarische Methodisten und Baptistenprediger große Anhängerscharen. Diese religiösen Bewegungen, bei denen mehr Herz und weniger Verstand betont wurde, verbreiteten sich nach 1800 im ganzen, nun politisch unabhängigen Amerika, während der Rationalismus der Aufklärung in den Gemeinschaften der Unitarier und Universalisten seine Fortsetzung fand.

In diesem Milieu wuchs Joseph Smith auf, wobei seine Eltern beide Lager vertraten. Seine Mutter bevorzugte das emotionale Moment der Erweckungsversammlungen, an denen sie mit ihren Kindern regelmäßig teilnahm. Sein Vater, der bei der Gründung eines Universalistenvereins in Vermont mitgeholfen hatte, legte auf das Rationale in der Religion Wert. Diese Polarisierung, sowohl innerhalb der Familie als auch in seinem weiteren Umfeld, veranlaßte den noch jungen Joseph Smith dazu, sich im Frühling des Jahres 1820 in einem “stillen Wald” direkt an Gott um Hilfe zu wenden. (Siehe ERSTE VISION.) In darauffolgenden Offenbarungen und Visionen empfing Joseph Smith die erforderliche Vollmacht und Erkenntnis, um die Kirche Jesu Christi wiederherstellen zu können, deren Lehren und Praktiken sich nicht auf frühere Denkmodelle beschränkten, sondern ein dynamisches Zusammenspiel zwischen Verstand und Gefühl gestatten.

DIE ZEIT DER WIEDERHERSTELLUNG (1830–1844). Die geistige und intellektuelle Schlüsselperson der frühen Kirche war selbstverständlich Joseph Smith. Die theologischen Rahmenbedingungen der Wiederherstellung fußten auf seinen prophetischen Äußerungen zu den wichtigsten theologischen Fragen. (Siehe SMITH, JOSEPH: LEHREN DES PROPHETEN JOSEPH SMITH.) Er übersetzte das Buch Mormon, empfing und veröffentlichte viele weitere Offenbarungen, gab theologische Erläuterungen, gewährte Einblick in frühere Evangeliumszeiten, erläuterte und verbesserte, wo nötig, den Text des Alten und Neuen Testaments und weckte das Interesse an bis dahin vernachlässigten Texten.

Im Mittelpunkt der Lehren des Propheten Joseph Smith steht das buchstäbliche und ewige Sühnopfer Jesu Christi und die Wiederherstellung des ewigen Evangeliums und seiner Verordnungen. Aus dieser breiten Perspektive betrachtet (die von B.H. Roberts als “eternalism” bezeichnet wurde) sind die Menschen (Mann und Frau) ewige, von einem Himmlischen Vater und einer Himmlischen Mutter gezeugte Wesen. Diese Vorstellung wurde von Lorenzo Snow und dessen Schwester Eliza R. SNOW <Snow, Eliza R.> weiterentwickelt. Der Mensch wird in diesem Leben durch Entscheidungen zwischen Gut und Böse zur Vorbereitung auf das ewige Leben geprüft. Das Universum, das von unzähligen Welten erfüllt ist, die von Söhnen und Töchtern Gottes bewohnt werden, hat den Zweck, allen Menschen Fortschritt in Richtung Gottestum zu ermöglichen. Das Göttliche im Menschen kommt durch freiwilligen Gehorsam gegenüber den ersten Grundsätzen des Evangeliums und durch Empfang aller errettenden Verordnungen (deren wichtigsten die Tempelverordnungen sind) zu seiner höchsten Entfaltung. Der Tempel ist ein dem Beten, Fasten, Glauben und Lernen geweihtes Gebäude - “ein Haus der Herrlichkeit, ein Haus der Ordnung, ein Haus Gottes.” (Lehre und Bündnisse 88:119.) Jeder Tempel ist ein Ort, wo Himmel und Erde aufeinandertreffen und wo durch Bündnisse ewige Verbindungen eingegangen werden. Der Tempel ist auch ein Ort der Belehrung, wo ewige Wahrheiten gelehrt werden.

GEMEINSCHAFTLICHKEIT, NOCHMALIGE WEIHUNG UND DIE FOLGEN (1844–1896). Die Auswanderung in das Salzseetal und die Besiedelung Utahs hatte die Entwicklung wichtiger Theorien hinsichtlich der wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Bedürfnisse Utahs und der USA zur Folge. Die Heiligen der Letzten Tage lehnten die Trennung zwischen zeitlichen und geistigen Bedürfnissen in Politik und Wirtschaft ab und betrachteten die HLT-Siedlung als Bündnisgemeinschaft auf der Basis der “Sammlung Israels”. Die Missionare lehrten alle Menschen, die auf sie hören wollten, das Evangelium. Die Neubekehrten verließen ihr geistiges Babylon, indem sie alte Lebensgewohnheiten ablegten und nach Utah zogen, um Zion zu errichten. Diese buchstäbliche “Sammlung des verstreuten Israels” führte die Bekehrten in die Ortsgemeinschaften Utahs, die in einem gesellschaftlichen Umfeld, in denen man ein Heiliger werden konnte, nach dem Grundsatz der WEIHUNG <Weihung> und der Treuhandschaft lebten. (Siehe WIRTSCHAFTSGESCHICHTE DER KIRCHE.)

Das HLT-Wirtschaftssystem, das auf dem Grundsatz beruht, daß die Erde Gott gehört, geht von der Tatsache aus, daß der Mensch ein Treuhänder seines Besitzes ist und seine Zeit, Kraft und Talente der Errichtung Zions weihen soll. Herrschaft über die Erde ist kein Freibrief zur Plünderung, sondern eine heilige Verpflichtung, Leben zu erhalten und die Umwelt zu schützen. Die Kosmologie der Heiligen der Letzten Tage lehrt, daß alle Lebewesen auferstehen werden, daß die Erde celestial werden wird und daß jeder Mensch vor Gott Rechenschaft über seine Treuhandschaft ablegen muß.

Aus diesem Gemeinschaftssinn heraus und dem Leben in einem unfruchtbaren Gebiet enstanden die Ideale der Sparsamkeit, Zusammenarbeit und Gleichheit. Die Erde ist dazu da, daß der Mensch “im Überfluß habe”; es gibt Armut, weil manche Menschen “über den anderen hinaus Besitz haben” wollen und Nahrung verschwenden, wo “keine Notwendigkeit” dazu besteht (LuB 49:19–21). Gott gebietet den Menschen zeitliche und geistige Einigkeit und Gleichheit, je nach individuellem Bedarf, individuellen Wünschen und Unterschiedlichkeit der Talente (LuB 78:6). Gelegentliche Abänderungen in der Ära Brigham YOUNG <Young, Brigham> hatten diese Ideale zum Ziel. Die Wohlfahrtseinrichtungen in den heutigen Gemeinden der Kirche, die es nun auch außerhalb des eigentlichen Kerngebietes der Kirche in den westlichen USA gibt, funktionieren nach demselben Grundsatz.

In der späten Pionierperiode (1869–1896) sah die Kirche die Notwendigkeit, die heranwachsende Generation gründlicher als bisher auszubilden. In den achtziger Jahren veröffentlichte George Q. Cannon, ein Mitglied der Ersten Präsidentschaft, eine Heftserie glaubensstärkender Tagebuchauszüge und Biographien und rief zur Belehrung der Jugend die Zeitschrift The Juvenile Instructor ins Leben. Präsident Cannon schrieb:

Die Heiligen der Letzten Tage sind glühende Anhänger des Lernens und wahre Sucher der Erkenntnis. Eine gute Ausbildung ist für sie das höchste Glück. Sie erweitert den Verstand, ruft freie und edle Gefühle hervor und hilft dem Menschen, die Hürden des Lebens besser nehmen zu können. ... Der Besitz von Wissen ist eine der höchsten Wonnen. (Juvenile Instructor 27, 1892, S. 210.)

Cannons Arbeit füllte ein wichtiges Vakuum, aber die Tatsache, daß diese Schriften in erster Linie an die Jugend der Kirche gerichtet waren, bedeutete eine thematische Einschränkung, also ließ Brigham Young in den größeren HLT-Städten Akademien errichten. Im Jahr 1875 wurde die heutige Brigham Young Universität, als eine der damaligen Akademien gegründet.

Sie ist die größte private Universität in den Vereinigten Staaten.

Nach dem Bau der transkontinentalen Eisenbahn im Jahr 1869 versuchte Präsident Young, die Zuwanderung von Nichtmormonen durch eine wirtschaftliche Abschottung zu verhindern, indem er ZCMI (“Zion’s Cooperative Mercantile Institution”) und andere genossenschaftliche Unternehmungen in großem Stil förderte. Dies war eine weitere Verstärkung der Tendenz, die Mitglieder der Kirche nach außen hin zu isolieren, besonders als die Verfolgungen zunahmen. Der Widerstand einiger Intellektueller gegen diese wirtschaftspolitischen Maßnahmen führte zur Abspaltung der “Godbeiten”. (Siehe ABTRÜNNIGE GEMEINSCHAFTEN.) Diese Gruppe wurde in Kirchenkreisen zum Paradebeispiel für die ausschließliche Verwendung des Intellekts und die Ablehnung prophetischer Führung sowie mangelnde Rücksicht auf die Bedürfnisse des Kollektivs.

Wenige HLT-Studenten gingen vor 1880 in den Osten der USA, um an einer nichtmormonischen Universität zu studieren, und wenige HLT-Schriftsteller brachten vor 1900 die Probleme und Fragen zur Sprache, die in der Gesellschaft “draußen” besprochen wurden. Die bedeutendste Ausnahme dessen war jedoch die Gleichberechtigung der Frauen, die in der von HLT-Frauen herausgegebenen Zeitschrift Woman’s Exponent angesprochen wurde.

DIE AUSEINANDERSETZUNG MIT DEM WISSENSCHAFTLICHEN SÄKULARISMUS (1896–1918). Das Dorfleben der Mormonen begann sich einer langsamen Änderung zu unterziehen, als die erste Generation Heiliger der Letzten Tage Geologie, Landwirtschaft, Chemie und Technik zu studieren begann. Diese Studien konfrontierten die Heiligen der Letzten Tage mit der weltlichen und skeptischen Gesellschaft. James E. Talmage studierte an den Universitäten Lehigh und Johns Hopkins Geologie und kehrte 1855 nach Utah zurück, wo er über viele Themenbereiche wie z.B. die Evolution und das Alter der Erde Schriften verfaßte. Als Rektor der University of Utah und später als Apostel übte er einen entscheidenden Einfluß auf die Kirche aus, indem er in seinen beiden Hauptwerken Die Glaubensartikel und Jesus der Christus die Theologie der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage systematisierte. John A. Widtsoe, der später Apostel wurde, studierte an der Harvard University und an der Universität Göttingen Biochemie, kehrte 1900 nach Utah zurück und wurde 1907 Rektor der Utah State University. Er spielte eine Schlüsselrolle bei der landwirtschaftlichen Forschung Utahs sowie bei der Einführung landwirtschaftlicher Studiengänge. Er war in der Universitätsverwaltung tätig und verfaßte viele Schriften zu kritischen Themen, denen sich die Mitglieder der Kirche gegenübersahen.

Im Jahr 1909 suchte sich die Gemeinschaftliche Fortbildungsvereinigung Widtsoes Buch Joseph Smith as Scientist [Joseph Smith als Wissenschaftler] als Leitfaden aus, die Zeitschrift Improvement Era druckte wiederholt Artikel von HLT-Wissenschaftlern ab, die sich zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen in Zusammenhang mit der Lehre der Kirche äußerten, und die Universitäten in Utah fingen an, berühmte Wissenschaftler als Gastdozenten einzuladen. Die Bildungsbeauftragten der Kirchen schlugen jedoch Alarm, als einige Universitätsprofessoren den Schöpfungsbericht in Genesis im Sinne der Evolution zu behandeln begannen, was im Jahr 1911 zu der zeitweiligen Verfügung führte, dieses Thema an der Brigham Young Universität in den Vorlesungen nicht mehr zu behandeln.

ANPASSUNG UND KONFRONTATION (1918–1945). In der Folge der weltweiten Industrialisierung, der Zerstörungen durch den Ersten Weltkrieg und der Bolschewistischen Revolution wichen der amerikanische Agraridealismus und die alte Ordnung in Europa neuen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Theorien. Für die Kirchenführer und Mitglieder der Kirche konnten die Arbeiteraufstände, die totalitären Exzesse des Faschismus und Kommunismus und die Gier des schrankenlosen Kapitalismus in keinem krasseren Gegensatz zu den in ihnen tief verwurzelten Grundsätzen der Treuhandschaft, der Zusammenarbeit und der sittlichen Verantwortung des Menschen stehen.

Der Bedarf an Lehrern für die Kirchenschulen und Religionsinstitute machte das kleine Rinnsal an Heiligen der Letzten Tage, die zwecks Studium in den Osten der USA zogen, zu einem wahren Strom. Die HLT-Studenten an der theologischen Fakultät der University of Chicago (siehe R. Swenson, “Mormons at the University of Chicago Divinity School”, Dialogue 7, Sommer 1972, S. 37–47) stützten sich auf ihre Erfahrungen in der HLT-Gemeinschaft Utahs und boten in ihren wissenschaftlichen Arbeiten dementsprechende Lösungsvorschläge für die drängenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme jener Zeit an. In diesem akademischen Umfeld mußten sie sich auch mit der modernen Bibelkritik auseinandersetzen, was einige dazu führte, die Bibel etwas liberaler und angepaßter auszulegen, etwa im Sinne der neo-orthodoxen protestantischen Theologen.

Zu jener Zeit begann die Kirche als wichtiger Bestandteil der amerikanischen religiösen Kultur Anerkennung zu finden. Elder B.H. Roberts wurde gebeten, zum hundertjährigen Bestandsjubiläum der Kirche einen langen Artikel für die Encyclopedia Americana zu verfassen. Heilige der Letzten Tage, die es außerhalb Utahs zu Ansehen brachten, waren u.a. der Physiker Harvey Fletcher, der Philosoph E.E. Erickson, der Diplomat J. Reuben Clark jun., der Agrarwissenschaftler Franklin S. Harris und der Chemiker Henry Eyring.

URBANISIERUNG UND WELTWEITE MISSION (1945–1990). Nach Ende des Zweiten Weltkriegs dominierten die sich auf das positivistische Weltbild der Natur- und Sozialwissenschaften stützenden Technokraten die wissenschaftliche Szene. Molekularbiologen schienen, mit den Waffen der Physik ausgerüstet, die Herrschaft über die Entstehung des Lebens gewonnen zu haben, und Sozialwissenschaftler erklärten mit Hilfe der Mathematik und EDV das menschliche Verhalten, ohne die göttliche Abstammung des Menschen in ihre Erklärungen miteinzubeziehen.

Während existentialistisch orientierte Theologen die Säkularisierung der Welt abwechselnd begrüßten oder an ihr verzweifelten, riefen die Führer der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage dazu auf, an Offenbarung als Quelle absoluter Wahrheit zu glauben, während sie Wissenschaft und Technik zur Verkündung des Evangeliums und zur Linderung des menschlichen Leids einsetzten. Das Beharren auf persönlicher und kollektiver Offenbarung als Mittel zur Führung der Kirche stellte für viele gebildete Mitglieder der Kirche ein besonderes Problem dar. Zahlreiche Wissenschaftler wandten sich in ihren Schriften an die damalige Generation junger Heiliger der Letzten Tage, beschrieben darin auf überzeugende Art und Weise die historischen, philosophischen und theologischen Grundlagen der Kirche und befürworteten die Verbindung von Bildung mit dem geistigen Bedürfnis, andere Menschen zu lieben, ihnen zu dienen und an Jesus Christus zu glauben.

Die Schrecken der beiden Weltkriege waren für die herkömmlichen Ideologien des Christentums zu einer massiven Herausforderung geworden. Präsident J. Reuben Clark jun. warnte vor dem militärisch-industriellen Komplex, der durch die in den Kriegen gebildete Gemeinschaft zwischen Technik und Politik entstanden war. Zahlreiche Mitglieder der Kirche waren durch den Korea- und Vietnamkrieg verunsichert, ebenso durch den Dauerkriegszustand, in dem sich die Welt zu befinden schien und der den Weltfrieden, eine Voraussetzung für die Missionsarbeit der Kirche, bedrohte.

Als das Feld der Missionsarbeit immer größer wurde, sammelte sich Zion (=die im Herzen rein sind” - LuB 97:21) in den weltweiten Pfählen der Kirche. Präsident Harold B. LEE <Lee, Harold B.> sah voraus, wie sehr sich die demographische und kulturelle Einheitlichkeit der Kirche durch den gewaltigen Zustrom an Bekehrten ändern würde. Man mußte nun zwischen den Praktiken der Kirche unterscheiden lernen, die dem reinen, echten, allumfassenden Evangelium Jesu Christi entsprangen und den kulturellen Traditionen des jeweiligen Landes.

Die alte Behauptung der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, daß der Mensch als Abbild Gottes erschaffen wurde und einen himmlischen Vater und eine himmlische Mutter hat, führte zur einem Aufleben vieler gesellschaftlicher Konflikte in bezug auf die Rolle von Mann und Frau als Einzelwesen, Mitglieder einer Familie und Mitglieder der Kirche. Sie führte ebenso zu einem drastischen Zusammenstoß mit fundamentalistischen Protestanten, und in gewisser Hinsicht zu einer Versöhnung mit katholischen und protestantischen Theologen, die diese Lehren in der Theologie des Urchristentums neu entdeckt zu haben meinten.

In der Kirche, ebenso wie in der Gesellschaft, wurden wichtige Aufgaben von Verwaltungseinheiten übernommen, die ihre Fachkenntnisse dem Studium des menschlichen Verhaltens entnahmen. Die Erkenntnisse der Sozialwissenschaften ermöglichten beispielsweise die Gründung des Sozialdienstes der Kirche [“Church Social Services”], in dem die auf kirchliche Normen abgestimmten Erkenntnisse der Sozialwissenschaftten eingesetzt werden. Je mehr sich die Kirche außerhalb Utahs weiterentwickelt, desto notwendiger wird es, die Programme der Kirche örtlichen kulturellen Gegebenheiten anzupassen, ohne den eigentlichen Kern des Evangeliums aufzuweichen. Die wachsende Zahl ausgebildeter Mitglieder der Kirche stellt dabei ein wichtiges Instrument dar. Dies betrifft besonders die herausragende Stellung der Familie und des Zuhauses als Mittelpunkt eines auf Christus gerichteten Lernens und Dienens.

In diesen Jahren wandten sich viele Mitglieder der Kirche an das Buch Mormon und verwendeten dessen Symbole als Ausdruck der Art ihres Glaubens, so z.B. die eiserne Stange, die all jenen Führung durch den Nebel der Finsternis gewährte, die sich voll Gehorsam an die offenbarten Wahrheiten hielten. Auch der Liahona, ein Kompaß, der je nach der Glaubensstärke seiner Besitzer funktionierte, wurde als Symbol der Suche nach göttlicher Führung verwendet. (Siehe 1. Nephi 8, 16; R. Poll, S. 107,108.) In der HLT-Theologie schließen beide Betrachtungsweisen einander nicht aus.

Der menschliche Verstand wird in der Theologie der Heiligen der Letzten Tage stets im Dienst und als Begleiter des Geistes gesehen - beide sind auf schöpferische Weise aktiv. Der Intellekt erkennt Probleme und stellt Fragen, während der Geist nach Antworten und Bestätigung sucht. (Siehe Alma 32:21–34.) Der Intellekt steht oft alleine da und neigt zur Selbstbetrachtung, während der lebendige Geist zu karitativem Dienen aufruft und nach dem gemeinsamen Aufbau des Reiches Gottes strebt. Der Stolz ist beider Feind. Er verleitet den Intellektuellen dazu, in Fragen der Kirchenlehre und offenbarter Wahrheit das menschliche Urteilsvermögen an die Stelle von Offenbarung zu stellen und verleitet die Menschen dazu, “nicht auf den Rat Gottes zu hören, denn sie schieben ihn beiseite.” (2. Nephi 9:28; vgl. 1. Kor. 2:5–7). Stolz verwandelt Glauben und Vertrauen in Selbstüberschätzung und Dogmatismus. Die heilige Schrift lehrt: “Es ist gut, gelehrt zu sein, wenn man auf den Rat Gottes hört.” (2. Nephi 9:29.)

BIBLIOGRAPHIE

Die Geistesgeschichte der Kirche entsteht durch ihre offenbarten Lehren und den daraus entstehenden Dialog, sobald die Mitglieder der Kirche diese Lehren zu verstehen trachten, sie im Leben anwenden und an andere weitergeben. Diese Geschichte ist so gut wie ungeschrieben. Eine gute Einführung dazu ist Leonard J. Arringtons Aufsatz “The Intellectual Tradition of the Latter-day Saints, Dialogue 4, Frühjahr 1969, S. 13–26. Andere gute Aufsätze dazu:

Leonard J. Arrington und Davis Bitton, The Mormon Experience, New York, 1979, Kap. 13 und 16; Philip L. Barlow, Hrsg., A Thoughtful Faith: Essays on Belief by Mormon Scholars, Centerville, Utah, 1986; Maureen Ursenbach (Beecher), “Three Women and the Life of the Mind”, Utah Historical Quarterly 43. Winter 1974, S. 26–40; Lowell L. Bennion, “The Uses of the Mind in Religion”, BYU Studies 14, Herbst 1973, S. 47–55; Davis Bitton, “Anti-Intellectualism in Mormon History, Dialogue 1, Herbst 1966, S. 111–134 und die Replik von James B. Allen; Marvin S. Hill, “The Shaping of the Mormon Mind in New England and New York”, BYU Studies 9, Frühjahr 1969, S. 351–372; Paul R. Green, Hrsg., Science and Your Faith in God, Salt Lake City, 1958, (Essays von Henry Eyring u. anderen); Duane E. Jeffrey, “Seers, Savants and Evolution: The Uncomfortable Interface”, Dialogue 8, Herbst/Winter 1973, S. 41–75; Sterling M. McMurrin, The Theological Foundations of Mormon Religion, Salt Lake City, 1965; Hugh W. Nibley, The World and the Prophets, CWHN 3; Erich Robert Paul, Science, Religion, and Mormon Cosmology, Urbana, Illinois, 1991; Richard D. Poll, “What the Church Means to People Like Me”, Dialogue 2, Winter 1967, S. 107–118; Charles S. Peterson, “The Limits of Learning in Pioneer Utah”, Journal of Mormon History 10, 1983, S. 65–78; John L. Sorenson, “Mormon World View and American Culture”, Dialogue 8, Frühjahr 1973, S. 17–29.

RICHARD F. HAGLUND, JR.

DAVID J. WHITTAKER