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CHRISTEN UND CHRISTENTUM

Der altertümliche Ursprung des Begriffs „Christ“ ist schleierhaft. Möglicherweise wurde er zuerst von Heiden in Antiochien benutzt, um damit Nachfolger Christi zu bezeichnen. Allerdings war es gegen Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. unter Kirchenmitgliedern eine anerkannte Selbstbenennung, wie es in den Aufzeichnungen von Ignatius zum Ausdruck kommt (c. 35-c. 107 n. Chr.). Der Begriff wird im Neuen Testament dreimal verwendet (Apostelgeschichte 11:26, 26:28, 1 Petrus 4:16).

In der neuen Welt (Buch Mormon Welt) gab es eine ähnliche Bezeichnung für Kirchenmitglieder (Mosia 18:12-17, Alma 46:13-16; 48:10). „Christ“ bezeichnete solche, die „wahrhaft an Christus glaubten“ und „freudig den Namen Christi auf sich [nahmen] oder Christen, wie sie wegen ihres Glaubens an Christus, der kommen werde, genannt wurden“ (Alma 46:15). Hier bezog sich der Begriff „Christen“ auf diejenigen, die glaubten, dass Christus kommen werde und nicht nur wie im Neuen Testament auf diejenigen, die glaubten, dass er gekommen war.

Vielleicht wurde der Begriff zuerst von Christen aus der alten Welt benutzt, um sich selbst mit dem griechischen Wort hagioi, was „Heilige“ bedeutet, zu benennen. Heilige der Letzten Tage haben diese Bezeichnung aus dem Neuen Testament für sich übernommen (Apostelgeschichte 9:13, 32, 41; Römer 1:7; 1 Korinther 1:2; Philipper 1:1). Eine solche Bezeichnungsweise findet man auch im Buch Mormon (1 Nephi 13:5, 9; 14:12, 14; 2 Nephi 9:18-19; Mormon 8:23; Moroni 8:26), in Lehre und Bündnisse (1:36; 84:114; 104:15) und in der Köstlichen Perle (Mose 7:56).

Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage sieht sich selbst nicht als eine von vielen Konfessionen im Christentum, sondern vielmehr als Gottes Wiederherstellung der Fülle des Christlichen Glaubens und dessen Ausübung in den letzten Tagen. Daher haben HLT Christen schon seit ihren frühesten Tagen danach getrachtet, sich von Christen mit anderen Brauchtümern zu unterscheiden. Während andere Formen des Christentums viel Wahrheit enthalten und viel Gutes durch die Führung des Heiligen Geistes bewirken, werden sie als unvollständig betrachtet. Demnach fehlen ihnen die Vollmacht des Priestertums von Gott, Tempelverordnungen, ein allumfassendes Verständnis vom Plan der Erlösung und ein nicht paradoxes Verständnis der Gottheit. Daher spiegelt die Bezeichnung „Heiliger“ eine Zugehörigkeit zur Kirche des Neuen Testaments wider und kennzeichnet in der gegenwärtigen Evangeliumszeit einen Unterschied zum Katholischen, Orthodoxen und Protestantischen Christentum.

Als Antwort darauf und aus verschiedenen anderen Gründen haben sich einige Katholische, Orthodoxe und Protestantische Christen bisher davor gesträubt, den Begriff „Christ“ auf Heilige der Letzten Tage zu beziehen. Ein Grund dafür ist, dass Heilige der Letzten Tage beanspruchen, dass nur sie die einzig von Gott stammende und wiederhergestellte Vollmacht in ihrer Kirche haben. Falls diese göttliche Vollmacht nach dem Tod der ersten Apostel nicht weiter übertragen wurde, dann fehlen dem Abendmahl, den Verordnungen, den Glaubensbekenntnissen und kirchlichen Strukturen anderer christlicher Gruppen eine göttliche Bewilligung. Viele traditionelle Christen sehen diese Haltung als eine Platzierung Heiliger der Letzten Tage außerhalb der Familie des Christentums wie es manche Bekenntnisse und anerkannte Verordnungen definieren.

Außerdem behaupten Heilige der Letzten Tage, dass Gott nicht nur mit Personen aus biblischen Zeiten gesprochen und sich nicht nur ihnen kundgetan hat, sondern auch den Menschen im Buch Mormon. Er spreche auch weiterhin mit seinem Volk durch heutige Offenbarung. Daher werden Heilige der Letzten Tage nicht immer als „biblische Christen“ betrachtet, wenn diese Bezeichnung den Glauben erfordert, dass der Kanon der Schriften mit der Bibel vollständig ist. Für Mormonen ist Gott noch immer ein Gott fortwährenderr Offenbarung. Das bedeutet, dass Glaubensbekenntnisse und Beichten nicht endgültig sind. Keine einzige Beichte oder alle insgesamt können die dynamische Kraft Gottes ganz erfassen. Seine Worte müssen vernommen und aufgezeichnet werden, wenn er durch Offenbarung weitere göttliche Führung gibt. Deshalb ist der Kanon der HLT offen. Das Buch Lehre und Bündnisse wird zu einem offiziellen, unbefristeten Organ für Offenbarungen, welche die ganze Kirche betreffen. Lebende Propheten, Seher und Offenbarer der Kirche empfangen weiterhin Offenbarungen, die den Mitgliedern mitgeteilt werden sollen.

Heilige der Letzten Tage meinen, dass Christen im weitesten Sinne solche sind, deren Glauben auf den Lehren Jesu basiert und die eine persönliche Beziehung zu ihm haben. Gemäß dieser Definition erkennen sie Katholiken, Orthodoxe, Protestanten und Heilige der Letzten Tage als Christen an, aber verstehen unter Christentum der Heiligen der Letzten Tage die wiederhergestellte Fülle des Evangeliums. Die Lebensführung von Heiligen der Letzten Tage ist die Bestätigung ihres christlichen Glaubens. Wie Präsident Brigham Young erklärte: „Wenn wir Christus nicht ähneln, sind wir keine Christen“ (Watson).

Das traditionelle Christentum definiert die Zugehörigkeit der Christen häufig als Annahme bestimmter Glaubensmeinungen und Dogmen. Da Heilige der Letzten Tage gewisse Dogmen, die nicht den Schriften entstammen, nicht annehmen, besonders solche mit einer philosophischen Überlagerung vieler christlicher Lehren nach neutestamentlicher Zeit, meinen einige andere Kirchen, dass Heilige der Letzten Tage keine Christen sein können. In diesem Sinne sind sie nicht „orthodox“. Jedoch stimmen für HLT Mitglieder Rechtgläubigkeit und richtiges Verhalten (Orthopraxie) mit der offenbarten Absicht und dem offenbarten Willen des Herrn überein. Einige der Missverständnisse zwischen der traditionellen Auffassung und der der Heiligen der Letzten Tagen entspringen der Kernfrage, ob Christen zuerst traditionelle, besonders in Glaubensbekenntnissen enthaltene, Dogmen glauben müssen, um ein „rechtes christliches Leben“ zu führen.

Eine integrative Definition von den Heiligen der Letzten Tagen steht im Buch Mormon: „Und wir reden von Christus, wir freuen uns über Christus, wir predigen von Christus, wir prophezeien von Christus, und wir schreiben gemäß unseren Prophezeiungen, damit unsere Kinder wissen mögen, von welcher Quelle sie Vergebung ihrer Sünden erhoffen können“ (2 Nephi 25:26). Christus und sein sühnendes Opfer sind von Anfang an die untermauernde Botschaft der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage gewesen. Sie vertreten die Ansicht, dass die Propheten aus dem Alten Testament ihn freudig erwarteten, dass die Apostel aus dem Neuen Testament von ihm predigten und Zeugnis gaben, die Propheten aus dem Buch Mormon ihn ankündigten und das Buch Lehre und Bündnisse dieser Generation sein Wort darlegt. Jesus Christus ist der lebende Herr der Kirche. Außer durch ihn gibt es keine Erlösung.

Präsident Spencer W. Kimball sagte: „Es kann kein wirkliches und wahres Christentum geben, sogar mit guten Werken, es sei denn wir sind der Wahrhaftigkeit Jesu Christi als der Einziggezeugte Sohn des Vaters, der uns durch den großartigen Akt des Sühnopfers gekauft und erstanden hat, zutiefst und persönlich verpflichtet“ (Kimball, S. 68). Er äußerte auch seine Hoffnung, dass alle zu der Erkenntnis kommen mögen, dass jedes Gebet, jeder Kirchengesang und jede Ansprache bei den Heiligen der Letzten Tage den Herrn Jesus Christus in den Mittelpunkt stellt.

„Wir sind wahre Nachfolger Jesu Christi und wir hoffen, dass die Welt letztendlich zu dem Schluss kommen wird, dass wir Christen sind, falls es irgendwelche in der Welt gibt“ (Kimball, S. 434).

BIBLIOGRAPHIE

Gealy, F. D. “Christian.” In The Interpreter’s Dictionary of the Bible, Vol. 1, pp. 571-72. Nashville, Tenn., 1962.

Grundmann, Walter. “Chiro.” Theological Dictionary of the New Testament, Vol. 9, pp. 27-580. Grand Rapids, Mich., 1964-1974.

Kimball, Edward L., ed. The Teachings of Spencer W. Kimball. Salt Lake City, 1982.

Watson, Eldon J., comp. Brigham Young Addresses, Vol. 4, p. 5 for July 14, 1861. Unpublished, March 1980.

ROGER R. KELLER